Donnerstag, 16. Juli 2009

Erzählung





Auszug "Kanon für drei Stimmen"



Der Typ habe ihre Nummer wissen wollen, empört sich Marill. Sie lässt ihre geballte Hand aufs Tischholz fahren. Das würde sich jetzt steigern. Von Mal zu Mal. Langsam würde aus ihr eben eine Frau, befindet er. Marill zeigt ihm einen Vogel. Nadia beginnt schallend zu lachen. „Lach nicht so doof!“, fordert Marill gekränkt. Wie alt der Typ denn sei, versucht Nadia jetzt in Erfahrung zu bringen. Marill zuckt gleichgültig mit den Achseln. „Als ob ich da noch nach frage!“, fügt sie dem Achselzucken bei. „Naja, sie ist erst zwölf“, gibt Nadia zu bedenken. „Zwölfeinhalb“, trumpft Marill auf. „Zwölfeinhalb“, korrigiert Nadia sich, geht zum Kühlschrank, öffnet ihn, nimmt die Flasche Wasser heraus. Ob es ein Mann sei, oder ein Jugendlicher wie sie, will Nadia wissen. Was das für eine Rolle spielen würde, mischt er sich ein. „Na, hör mal!“, ereifert sich Nadia. Marill spielt mit dem Gummi eines Einweckglases, lässt es schnalzen. Sie müsse doch wissen, ob sie sich Sorgen machen – ob sie dem nachgehen müsse. Ein Mann sei ein Mann, erwidert er. Ob der nun vierzehn oder vierzig sei. „Also, das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!“, ruft Nadia entsetzt. Er kommt auf sie zu. Sie verschränkt die Arme, hält die Wasserflasche wie zum Schutz vor ihre Brust. Marill greift nach ihrem Walkman auf der Küchenanrichte und stöpselt sich die winzigen Kopfhörer in die Ohren. Sie drückt auf PLAY, beginnt ein Lied mitzusummen. „Lass uns später darüber sprechen“, bittet er Nadia. „Ich finde deine Ansichten dazu höchst seltsam“, sagt sie aufgeregt. Marill summt lauter, hebt die Arme, versucht sich in einer Pirouette. Er fasst Nadia in die Hüfte. „Bitte.“ Sie schüttelt seine Hände von sich ab. Sie sei jetzt gerade irgendwie enttäuscht von ihm, gibt sie zu. Sie würde über seinen Satz nachdenken wollen. Sie müsse darüber nachdenken. Sie könne gar nicht anders. Das würde jetzt so seine Bahn ziehen. Seinen Lauf nehmen, der Gedanke. Welcher Gedanke das sei, will er wissen. „Du weißt schon“, flüstert sie. Nichts würde er wissen. Hätte er gewusst, dass sie so entsetzt darauf reagieren würde – hätte er geschwiegen. „Warum hast du's nicht“, haucht sie, als sei ihre Stimme am ausgehen.

„Marill übernachtet heute bei Selma.“ Nadia bringt zwei Kaffeetassen ins Atelier. „Das Licht ist schlecht“, stellt sie fest. „Die Deckenfenster sind voll mit diesen klebrigen Blüten.“ „Ach“, winkt er ab und sieht wie beiläufig auf vom Papier, „das geht schon. Es reicht für meine kleinen Skizzen.“ Sie tritt hinter ihn, legt beide Hände auf seine Schultern, beugt sich vor. „Das sind keine kleinen Skizzen“, findet sie. „Das sind Kunstwerke.“ „Das sagst du immer“, sagt er tonlos. „Ja, ich weiß. Das sag ich immer.“ „Meinst du es immer gleich?“ „Ich weiß nicht. Es heißt: Ja, ich denke, das sind Kunstwerke, die du schaffst. Für meine Begriffe und in ihrer Ehrlichkeit.“ „Siehst du“, er wendet sich Nadia leicht zu. „das ist verdreht und eben allein deinen Maßstäben unterworfen.“ Mit den Maßstäben anderer, ließe es sich nicht messen, sagt sie. „Da muss ich dich natürlich enttäuschen. Ich bin kein Kunstkritiker. Wenn dir meine Meinung nicht gilt – kann ich in dir kein gutes Gefühl heraufrufen.“ Das täte ihr Leid, bedauert sie. Er legt das Zeichenmaterial geschäftig zusammen. „So war es nicht gemeint“, murmelt er bedrückt. „Ich tret dir heut wohl in mehrerlei zu nahe.“ Sie schiebt einen Klappstuhl zu ihm heran. Er ist im Begriff aufzustehen. „Bitte bleib sitzen“, sagt Nadia. Er setzt sich wieder. „Ich möchte wissen, wie du es vorhin meintest, als du sagtest, ein Mann sei ein Mann.“ Er sieht ihr in die Augen. Sie ist nervös. Ihre Finger spielen mit der Kordel ihres Pullovers. „Schau, ich meine wie ich es sage. Grad heraus und hoffentlich so objektiv es nur irgend möglich ist.“ Ihr Mund schnappt auf, entlässt aber keinen Einwurf. Ihr Mund schnappt zu. Ein Fischlein, denkt er. Trockener Boden – der Raum jetzt. „ Ab da, wo von einem Bewusstsein auszugehen ist – und du wirst mir recht geben, dass sich ein Bewusstsein, eine Bewusstheit nicht erst mit der Volljährigkeit eines Menschen einstellt – kann doch kaum mehr von einem Unterschied zu sprechen sein, der das eine gültiger wichtig, oder unwichtig machte als das andere.“ „Red nicht drumherum“, erwidert sie streng. „Bleib grad heraus.“ „Du warst besorgt, was Marill anbelangt. Dir scheint es schlimmer, würde ein Mann nach ihrer Nummer fragen. Schlimmer, als wenn ein Jugendlicher nach ihrer Nummer fragen würde.“ „Das ist es!“, sagt sie bestimmt. „Es ist widerlich! Abnorm! Ein Mann hat nicht nach der Nummer eines kleinen Mädchens zu fragen!“ „Dein kleines Mädchen ist zwölf, beinahe dreizehn Jahre.“ „Ist ein Mädchen!“ „Sie kommt in die Pubertät, hat bereits ihre Periode, Nadia!“ „Sie ist ein Kind noch, basta! Und ein Erwachsener hat das zu sehen. Ein Erwachsener ist ein Erwachsener, weil ihm die Bewusstheit in einem stärkeren, einem reiferen Maße gegeben sein sollte, als das bei einem Jugendlichen der Fall sein kann.“ „Du meinst, Fehltritte sind bei einem Jugendlichen zu entschuldigen. Bei einem Erwachsenen nicht.“ „Unser Rechtssystem ist danach ausgerichtet! Das alles ist doch ganz klar, ist eindeutig. Und für mein Verständnis: richtig.“ Er nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. „Wirklich bedenklich finde ich die Laschheit in deinen Aussagen. Die Uneindeutigkeit, mit der du alles, als sei es natürlich, gültig sprichst. Das macht mich ganz unsicher“, sagt sie. „Als würde ich dich mit einem Male nicht mehr kennen. Als seist du noch wer anders. Hieltest dich selbst, in einem für dich entsprechenden Moment, für einen Jugendlichen, der sich das erlauben dürfte: nach der Nummer eines Mädchens fragen.“ Er nimmt einen nächsten Schluck vom Kaffee, setzt die Tasse ab, schweigt. „Mir scheint, du verstehst es falsch“, sagt er dann. Er ist traurig. Beide sitzen eine Weile stumm und brüten. „Vermutlich kommen wir da nicht zu einer Einigung“, sagt sie leise und es schwingt Enttäuschung in ihrer Stimme mit. „Du, ich bin keiner, der ein junges Mädchen nach seiner Nummer fragte“, wirft er gekränkt ein. „Dass wir uns da verstehen!“ Er streckt sich. Der Stoff seines Hemdes spannt sperrig. Sie schaut zu ihm auf. Er lächelt jetzt unbeholfen. „Ist es okay, Nadia?“ Sie schüttelt den Kopf, erhebt sich, nimmt beide Tassen in die Hand, sagt, sie würde den Abwasch machen. Er fährt sich mit der Hand über die Stirn. Als Nadia die Tür nach sich schließt, streckt er sich erneut.

Freitag, 10. Juli 2009

Erzählung




Auszug "Zuckerbohnen"



Es fing an damit, dass sie ein Rezept von mir in Erfahrung zu bringen wünschte. Ein ums andere Mal sprach er wohl von diesem Gericht, das sich dem Mund meiner russischen Großmutter einmal entlocken ließ und für das ich bereits als Kind schwärmte, kochte sie es und trug sie es auf bei Familientreffen. Sie ließ mich in einem dieser ersten Telefongespräche wissen, dass er davon ebenso unentwegt ins Schwärmen geriet, wie ich es als Kind tat; und dass ich ihnen beiden nichts weiter als eine Freude machte, verriete ich ihr das Rezept der russischen Großmutter. So kramte ich Zutaten und Kochvorgang aus den Schubladen meines Kopfes, während sie notierend auf der anderen Seite saß und sich ein sprichwörtliches Händchen rieb. In einem weiteren Anruf von ihr, erklärte sie mir, dass sie ja selbst wisse, wie ungewöhnlich es sei, den Expartner des eigenen Partners zu kontaktieren, doch sie wisse sich keinen Rat, mit ihm gerade keinen Rat. Und immerhin hätte ich doch Jahre mit ihm zusammengelebt, würde ihn doch also sicherlich kennen. Meinen Einwurf, dass sich jeder bei einem anderen Menschen neu auch zeige – ja, sich letztlich neu kreiere, neu machte, anders sei, da ja auch der jeweilige neue Partner anders sei, als der zuvorige - ignorierte sie. Ganz konsequent in ihrer Vorgehensweise eines Kennenlernen des Partners, den man selbst glaubte, hinzureichend abgelegt und aufgearbeitet zu haben, brachte sie die sture Frage: „Wie er denn im Gros so gestrickt sei“ über die Lippen. Und ich zögerte und zauderte, rührte gedankenverloren, die Frage nicht fassen könnend, im Eintopf, der vor mir auf dem Herd köchelte. Nicht, dass ich das jetzt falsch verstünde, nahm sie den bis dahin einseitig gesponnenen Faden wieder auf. Sie glaube nur, dass er noch nicht recht gelöst sei von mir. Er würde von mir sprechen. Dann und wann. Zunächst tat sie es noch ab, sagte sie, während mir die Bohnen im Eintopf zerkochten und ich mich unfähig sah, den Topf von der Kochstelle zu nehmen. Es seien nunmal Jahre einer Gemeinsamkeit gewesen. Da bliebe natürlich zurück. Das könne man verstehen. Sie könne das verstehen. Ob es mir denn auch so mit ihm ergangen wäre, fragte sie schließlich. Ob er denn auch in meiner Zeit mit ihm von einer seiner vorherigen Freundinnen gesprochen hätte. In dieser Weise. Der einen Weise. Der wie verräterischen Weise. Ich hätte ihr das gerne bestätigt, schon um von der scheinbaren Besonderheit, die ich dadurch unweigerlich für sie erlangte, freigesprochen zu werden. Dann hätte ich unwahr gesprochen und wahr zu sprechen, war eine Zeitlang mein höchstes Bestreben, der Anspruch, den ich mir stellte. Ich starrte nachdenklich in den Eintopf vor mir, der Blasen warf. Mit einem Male stand Raul mir im Rücken, küsste mich in den Nacken. Ich wirbelte erschreckt herum, bedeutete ihm – indem ich auf das Telefon an meinem Ohr zeigte – mich in Ruhe telefonieren zu lassen. Mein Glück mit ihm kam mir in dieser Situation plötzlich wie Hohn vor. Später sollte ich erfahren, was das anrichten würde einmal mit uns. Ich log nicht. Ich suchte mich herauszuwinden aus dem Gespräch, das sie überwiegend alleine bestritt. Suchte nach einem Weg des Takts. Beinahe konnte ich sie uneinverstanden und unzufrieden mit meinen Antworten und Entgegnungen den Kopf schütteln sehen, oder auch, wie sie ihn zumindest misstrauisch zur Schulter hin neigte. Kinn, Mund und Wange eng ans Telefon gepresst. Es sei so, dass ich mich nicht mehr ganz erinnern könne. Es sei ja, wie sie es selbst sagt, eine lange Zeit gewesen. Viele Jahre. Da sei nicht mehr alles abrufbar im Kopf an Momenten. Das könne sie sich sicher vorstellen. Für sie allein sei es schwierig, bekannte sie, da er so insgesamt ein schwer zu durchdringender Charakter sei. In sich hineinfräße, statt sich frühzeitig mitzuteilen. An der Stelle nickte ich, denke ich. Natürlich erkannte ich ihn in dieser Beschreibung wieder. Doch damit konfrontiert zu werden, hatte ich nicht gebeten. Für meine Trennung von ihm gab es immerhin einen Grund, Gründe. Eine Geschichte, die ich nicht sich verknotend mit einer anderen Geschichte zu sehen verlangte. Ich befand, es gäbe Grenzen meinerseits für eine Mitteilsamkeit und lenkte das Gespräch zunehmend müder auf eine Verabschiedung hin. Der Eintopf war mittlerweile ein vollständiges Mus zerkochter Bohnen.

Donnerstag, 9. Juli 2009

Kleines:

Erstes Mal

Mit einem Male wieder: ungereift,
als sei ich Mädchen, pflückte wilde Gräser,
als wärst du Junge, unrasiert und seicht
im Ausdruck noch; du fülltest Gläser

auf für uns, wir hielten sie uns zu;
Du zwinkertest, ich senkte schüchtern Blick,
mein Herzgalopp im Du-und-Du-und-Du
führte mich, da wo ich herkam jetzt zurück.

Dir wärs nicht dumm, ob meiner Neue,
gewännst der Komik eine Süße ab;
ich rezitierte über eine sonderbare Bläue,
die mir der Himmel wär...das nicht zu knapp.

Wir wüssten nichts vom klassischen Beginn
und nichts vom Enden einer Zeit,
wir spürten uns im allerersten Sinn
und schworn einander Ewigkeit.

Mit einem Male wieder: ungereift,
und gut, so gut ist dieses: Wieder-Kleinen;
von Narbenhand noch nicht gestreift -
sich nächste Illusion zu reimen.