Freitag, 11. Dezember 2009

Auszug aus der Nobel Lecture von Herta Müller:

"Damals in der Fabrik, als ich ein Treppenwitz und das Taschentuch mein Büro war, habe ich im Lexikon auch das schöne Wort TREPPENZINS gefunden. Es bedeutet in Stufen ansteigende Zinssätze einer Anleihe. Die ansteigenden Zinssätze sind für den Einen Kosten, für den Anderen Einnahmen. Beim Schreiben werden sie beides, je mehr ich mich im Text vertiefe. Je mehr das Geschriebene mich ausraubt, desto mehr zeigt es dem Gelebten, was es im Erleben nicht gab. Nur die Wörter entdecken es, weil sie es vorher nicht wussten. Wo sie das Gelebte überraschen, spiegeln sie es am besten. Sie werden so zwingend, daß sich das Gelebte an sie klammern muß, damit es nicht zerfällt.
Mir scheint, die Gegenstände kennen ihr Material nicht, die Gesten kennen nicht ihre Gefühle und die Wörter nicht den Mund, der spricht. Aber um uns der eigenen Existenz zu versichern, brauchen wir die Gegenstände, die Gesten und die Wörter. Je mehr Wörter wir uns nehmen dürfen, desto freier sind wir doch. Wenn uns der Mund verboten wird, suchen wir uns durch Gesten, sogar durch Gegenstände zu behaupten. Sie sind schwerer zu deuten, bleiben eine Zeitlang unverdächtig. So können sie uns helfen, die Erniedrigung in eine Würde umzukrempeln, die eine Zeitlang unverdächtig bleibt."

3 Kommentare:

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  2. Eigentlich wollte ich einen Kommentar zu diesem Text schreiben. Ich tue es nicht, und lese in "Ehrfurcht" den Textauszug. Gerade die letzten Zeilen scheinen für Herta Müller "Programm zu sein", scheinen ihrer Lebensphilosophie zu entsprechen, die aus den Erfahrungen herrührt. Herta Müllers Schreiben ist aus meiner Sicht biographisch, verwandt mit den Texten von Ilma Rakusa.

    Liebe Grüße
    Reinhard (tjm.)

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  3. ja, ich denke auch, dass diese herausgewählten zeilen ihrer lebensphilosophie entsprechen. und ich bin klein staunend darüber, zu welchen sprachbildern sie in der lage ist - oder zu welchen sie sich vorwärts gescheucht fühlt vielleicht - die einen authentischen ausdruck in noch anderes gültiges - außerhalb der person, so scheints - gebären.

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